Guerillakinder
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Guerillakinder

Guerillakinder

Elizabeth meint, dass die Guerilleros auf ihren Gewaltmärschen durch den Urwald des Amazonasgebiets, durch die Steppen der Llanos und im Hochgebirge der Sierra Nevada de Santa Marta alles Mögliche gebrauchen können, nur keine Schwangeren. Und erst recht keine Kinder. Deshalb benutzen sie zur Verhütung alles, was nur irgendwie funktioniert. Elisabeth ist 39 Jahre alt. Vor zwanzig Jahren ist sie zur Truppe gestoßen, in dieser Zeit hatte sie keinen Kontakt zu ihrer Familie. Erst jetzt, im Aufnahmelager, in der „zona de transición“, hat sie mit ihren Eltern telefoniert, und die sind zu ihr gekommen, vergangenen Dezember, in der Weihnachtszeit. Ihre Reise von Tolima nach Valledupar nahe der Grenze zu Venezuela hat Tage gedauert, und es hat die armen alten Leute viel Geld gekostet, alle Verwandten mussten zusammenlegen.

Das mit der Verhütung klappt nicht immer. Das sieht man an Camilo. Der schlanke, hochgewachsene Junge sieht aus wie ein Achtzehnjähriger, tatsächlich ist er 29. Er hat etwas Verlorenes an sich, in den Augen und in der Haltung. Wenn man ihm eine Frage stellt, lächelt er ein bisschen, denkt nach, und dann spricht er ohne Scheu – fast etwas distanzlos – über sein Leben. Camilo ist die Frucht der Liebe zwischen einem Guerillero und einer „camarada“. Das sollte zwar nicht vorkommen, aber was kann man dagegen machen? Camilo weiß, wo er gezeugt wurde – auf dem Paramo war’s, in den eisigen Höhen der Sierra Nevada de Santa Marta.

 

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Camilo

 

Seit einigen Wochen hält sich Camilo im Lager auf, genauso wie Elizabeth und weitere 170 Camaradas einer Einheit von FARC-Rebellen (Fuerzas armadas revolucionarias de colombia), die bis vor kurzem die ganze Gegend im Norden Kolumbiens beherrschten und Angst und Schrecken verbreiteten. Hier lebt auch Camilos Vater, der etwas zu sagen hat im Camp. Er ist Musiker. Gerade hält er sich in Bogotá auf, dorthin haben ihn die Vertreter der UNO und der OEA (Organisation Amerikanischer Staaten) gebracht, die das Lager betreuen und die Rückführung der Guerilleros in die Gesellschaft bewerkstelligen sollen; eskortiert wurden sie von einem Trupp bewaffneter Soldaten. Im Lager lebt auch Camilos Mutter. Von ihr will er nichts wissen.

 

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Die Kämpfer warten darauf, dass der Friedensprozess, den die Regierung mit den Führern der FARC ausgehandelt hat, endlich Gestalt annimmt. Das erste Plebiszit (Volksbefragung) war knapp gescheitert, denn zu tief ist der Groll der Kolumbianer auf die Guerilleros, die über Jahrzehnte das Volk mit Massakern und Entführungen terrorisierten. Die Regierung Santos legte mit weiteren Forderungen nach, und die Freiheitskämpfer mussten zähneknirschend zusätzlichen Kompromissen zustimmen. Jetzt warten sie darauf, dass die Regierung endlich ihre Zusagen wahr macht. Der Prozess stockt. Um dieses Thema kreisen die Gespräche im Lager.

Die Kämpfer hausen in heruntergekommenen Zelten und baufälligen Hütten. Die wenigsten tragen noch die grün-braun gefleckten Uniformen der FARC, in denen sie sich von den Soldaten des Heeres kaum unterscheiden. Keinem sieht man die Vergangenheit an. Es sind Campesinos wie man sie in dieser Gegend nahe der Atlantikküste überall auf der Straße trifft, ältere und jüngere, die Hälfte sind Frauen. Keine Minderjährigen.

Wenn man von Manaure del Cesar die Straße hinunter Richtung Valledupar fährt, ragen rechter Hand die bizarren Gipfel der Sierra Nevada bis über 5700 Meter in die Höhe. Links sieht man die Berge der Serrania de Perijá, wo, in wenigen Kilometern Entfernung, die Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela verläuft. Auf halbem Weg biegt mitten in dem Dorf La Paz die Straße links in Richtung San Juán del Cesar ab. Dort gilt es, durch einen Militärposten hindurch zu kommen, der nur solche  Besucher durchlässt, die sich zuvor angemeldet haben und die gewiss auch keine Waffen oder Drogen schmuggeln.

Die Fahrbahn besteht jetzt immerhin noch aus zwei schmalen Asphaltstreifen, die nach einigen Kilometern am Guerillalager vorbei führen. Man erkennt den Eingang an dem riesigen bunten Plakat mit dem Konterfei von Simón Trinidad: „Bienvenidos a la zona de paz“ („Willkommen in der Friedenszone“).

 

04

 

Der von seinen Anhängern verehrte Guerillaführer wurde 2004 gefangen genommen, an die USA ausgeliefert und wegen Drogenhandels und Entführung von drei US-Amerikanern zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt, die er nun – zusammen mit den 290 „hombres más peligrosos del mundo” (den gefährlichsten Verbrechern der Welt) – in Florence, Colorado, absitzt, während er darauf hofft, dass er im Zuge der weiteren Verhandlungen zwischen der Guerillabewegung und der kolumbianischen Regierung begnadigt wird und frei kommt.

Das Lager liegt, strategisch klug gewählt, auf einem mit Bulldozern abgeflachten Hügel, der den Blick in alle Himmelsrichtungen frei gibt. Mit Kalaschnikows bewaffnete Wächter, Männer und Frauen, behalten die Umgebung im Blick. Eine von ihnen ist Yuliana mit den typischen Gesichtszügen des Wayúu-Volkes aus dem nördlich der Sierra Nevada de Santa Marta gelegenen Departements Guajira. Auch sie ist seit langem FARC-Kämpferin, mit 17 trat sie der Truppe bei.

 

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Guajiramädchen

 

Neben den verstreut liegenden Hütten und Zelten entstehen auf einem Teil des Camps kleine Häuschen, eines wie das andere aus Betonplatten und Wellblech zusammengebaut. Seit Wochen ist der Bau eingestellt, weil der Materialnachschub stockt. Nahrung und Wasser werden mit Lastwagen herangeschafft. Die Guerilleros bezahlen mit dem Geld, das ihnen die Regierung zur Verfügung stellt. Allerdings steigen von Woche zu Woche die Preise von Fleisch, Gemüse und Obst, die große Lastwagen aus Barranquilla herbeischaffen, weil die Händler immer deftigere Aufschläge machen. Die Kämpfer sind wütend und wollen in Zukunft sich selbst versorgen, indem sie bei den Campesinos in der näheren Umgebung kaufen. Für alle 170 Guerilleros samt den Besuchern gibt es ein einziges Clo bestehend aus einem wackeligen Blechverschlag. Das Wasser wird mittels einer halb zerbrochenen Plastikschüssel aus einem Holzfass geschöpft.

 
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„Zonas veredales de transición“ (Übergangszonen)

wie dieses Lager sind, verteilt übers ganze Land, überall dort eingerichtet worden, wo sich die Guerilleros einigermaßen sicher fühlen können. Sie sind in hohem Maße gefährdet und müssen damit rechnen, bei passender Gelegenheit erschossen oder irgendwie beiseite geschafft zu werden. Zu groß sind Wut, Hass und Rachegelüste ihrer Opfer, der Familien Tausender, deren Angehörige sie ermordet und entführt haben. Entführungen waren die Spezialität der FARC. Ihre Opfer schleppten sie mit sich auf tödlichen Fußmärschen durch den Urwald, manche zehn oder fünfzehn Jahre lang.
Ihre brutalsten Gegner waren die „paracos“ (Paramilitärs), die sich dadurch einen Namen machten, dass sie ihre Gegner, Guerilleros und deren (vermeintliche) Sympathisanten, bei lebendigem Leib mit Motorsägen in Stücke schnitten. Offiziell gaben die Paramilitärs inzwischen ihre Waffen ab, tatsächlich aber haben nicht wenige neue kriminelle Gruppen gebildet, die weiterhin den Drogenhandel kontrollieren und Schutzgelder erpressen. Sie warten nur darauf, bis sie die FRAC-Rebellen erwischen, am liebsten einzeln, um sich blutig zu rächen. Deshalb werden die Lager der Kämpfer weiträumig von Soldaten des kolumbianischen Heeres bewacht. Vertreter der UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAE) sind beständig vor Ort. Die „zonas de transición“ gelten als erste Station auf dem Weg der Guerilleros zurück in die Gesellschaft. Noch haben sie ihre Waffen nicht abgelegt. Irgendwo auf dem Gelände des Lagers sollen Gewehre, Pistolen, Minen und Mengen von Munition gebunkert sein als Poker für die Verhandlungen mit der Regierung.
Die Hierarchie im Lager ist streng. Der Comandante macht die Politik, er hat jedes Detail, jede Person, jede Maßnahme im Blick. Groß und breitschultrig, wirkt er mit seinem über die Besucher und den Horizont schweifenden Blick seiner braunen Augen ausgesprochen sympathisch. Der ansehnliche Bauchansatz will nicht recht zu einem Guerillero passen. Er ist rhetorisch geschult und erzählt die Geschichte Kolumbiens und der Befreiungsbewegung auf seine Weise: Nie hätten die FARC dem Volk geschadet, immer nur sei es gegen die Regierung und die Paramilitärs gegangen, gegen die Reichen und Mächtigen. „20 Familien gibt es in Kolumbien, die alle Macht fest in Händen halten. Sie sind es, die die wichtigsten politischen Ämter unter sich verschachern, und so läuft dies seit Generationen. 20 000 Menschen horten in diesem Land unvorstellbaren Reichtum auf, während über die Hälfte der Kolumbianer in Armut und Elend vegetieren.“ Keine Rede von den grausamen Massakern der FARC, dem Drogenhandel und den menschenverachtenden Entführungen.
Im Laufe der Violencia, des ein halbes Jahrhundert andauernden Bürgerkrieges in Kolumbien, sollen 250 000 Menschen gewaltsam umgekommen, 8 Millionen vertrieben, (nach zurückhaltenden Schätzungen) gegen 10 000 von den FARC ermordet und etwa genauso viele entführt worden sein. Das Massaker von Bojayá hat sich tief ins kollektive Bewusstsein der Kolumbianer eingegraben; in diesen Tagen jährt es sich zum fünfzehnten Mal: Am 30 April 2002 lagen die Guerilla (FARC) und Paramilitärs (autodefensas) am Río Atrato im Chocó in einem Gefecht einander gegenüber. Die Bewohner des kleinen Dorfes Bojaya suchten Schutz in ihrer Kirche. FARC-Kämpfer warfen einen Gaszylinder hinein. Die Explosion tötete 119 Personen, darunter 48 Kinder und auch einen gerade geborenen Säugling. Eine einzige Familie verlor dabei 29 ihrer Angehörigen. 6000 Menschen mussten Hals über Kopf fliehen (siehe Quince anos de llorar a los muertos de Bojayá, in: El Colombiano, 30.04.2017, S. 2).
Nun ruft der mit der Regierung geschlossene Friedensvertrag zur Versöhnung auf. In dieser Situation, in der unzählige kolumbianische Familien den Verlust ihrer Angehörigen und ihrer Heimat betrauern, stellen sich die FARC selbst als Opfer dar und streiten ihre Schandtaten rundweg ab. Von der Bevölkerung erwarten sie „Vergebung“ („perdón y reconciliación“), ohne selbst ihre eigene Schuld anzuerkennen. Wie soll da Versöhnung vonstattengehen?
Kinder und Jugendliche in den Reihen der Guerilla? Der Comandante ist empört. Niemals wurden Minderjährige zwangsrekrutiert! Deshalb können die FARC jetzt auch keine Jugendlichen entlassen. „Es gibt ja keine.“ Nein, kein einziger Minderjähriger, weder Junge noch Mädchen, hält sich in den Reihen der Guerilla auf. Na ja, höchstens sei es einmal vorgekommen, dass sie in ein Dorf kamen, in dem alle Erwachsenen getötet worden waren. „Wenn wir in dieser Situation überlebende Kinder vorfanden – was sollten wir mit ihnen anfangen? Sie ihrem Schicksal überlassen, dem sicheren Tod ausliefern? Solche Kinder haben wir natürlich in Obhut genommen.“

07
Lagerleben

Dass die Wirklichkeit eine andere ist, zeigt ein Blick auf die Belegschaft des Camps. Die Kämpfer im sind durchweg in mittlerem Alter; sie sind seit zwanzig, fünfundzwanzig, einige seit dreißig Jahren bei der Guerilla. Das heißt, dass sie im Alter von Grundschülern waren, als sie rekrutiert wurden. Wie das, comandante? Entsprechend ist der Bildungsstand der FARC-Rebellen. Wahrscheinlich können die meisten notdürftig schreiben und lesen. Ihre Bildung beschränkte sich auf Indoktrination. Kritische Beobachter meinen, dass die FARC nicht nur im Verlauf ihrer Geschichte Minderjährige zwangsweise rekrutierten, sondern dass sie sie noch immer in ihren Reihen versteckten. Wie viele es sind, weiß niemand. Nichts fürchten die Rebellen offenbar so sehr wie die Entlassung der jungen Menschen. Denn dann könnten auf einen Schlag die fürchterlichsten Menschenrechtsverletzungen vor der ganzen Welt offenbar werden. Manche vermuten, dass die jungen Guerilleros heimlich außer Landes geschafft werden.
Kinder wurden nicht nur rekrutiert, sondern innerhalb der Guerilla auch gezeugt. Während der langen Geschichte der FARC hat man Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen stets beargwöhnt, gewaltsam unterbunden und gegebenenfalls auch hart bestraft. Wenn eine Guerillera dennoch schwanger wurde, musste sie abtreiben. Diese rigide Praxis wurde in den unteren Chargen der Truppe ohne Wenn und Aber durchgeführt. Anders in der Führungsebene. Stets hatten die Comandantes ihre Gespielinnen. Wenn die schwanger wurden, konnten sie meist ihren Nachwuchs zur Welt bringen. Anschließend wurden die Säuglinge irgendwo untergebracht, in der Regel bei armen Bauern auf dem Land. Über die Herkunft der Guerillakinder, die unter Campesinos aufwuchsen, durfte nichts bekannt werden. Der Nachwuchs wäre, ebenso wie die Pflegeeltern, unweigerlich getötet worden.
Camilo, der junge Mann, der auf dem Paramo in der Nähe von Santa Marta gezeugt wurde, kam als Kleinkind bei einer armen Familie in Cartagena unter. „Sie waren zwar nicht verwandt mit mir, aber sie behandelten mich immer freundlich, und heute noch stehe ich in Verbindung mit ihnen“, erzählt er. Während seiner ganzen Kindheit konnte Camilo Kontakt mit seinem Vater halten, offenbar deshalb, weil der eine führende Persönlichkeit unter den Kämpfern war. „Oft habe ich ihn im Feldlager besucht.“ Er blieb dann für einen oder zwei Monate dort. Das Leben unter den Guerilleros gefiel dem Jungen, die Kameradschaft, die Natur schätzte er. Vierzehn Jahre war Camilo alt, als er sich in die Tochter des mächtigsten Guerillaführers des Landes verliebte. „Sie war so hübsch!“ Wenige Tage nach Camilos Rückkehr nach Cartagena wurde das Feldlager bombardiert, das Mädchen kam dabei zu Tode, zusammen mit seiner Mutter.
Camilo war nicht das einzige Guerillakind, das im Geheimen aufwuchs. Auf Dauer blieb dieser Umstand nicht verborgen. Das Heer und die „paracos“ (Paramilitärs) begannen, Jagd auf die klandestinen Kinder der FARC-Rebellen zu machen. Wer immer mit der Guerilla sympathisierte, wer Kämpfer aufnahm, ihnen zu essen gab oder sie verbarg, wurde ermordet, sein Hab und Gut zerstört. Camilos Vater erfuhr, dass sein Sohn auf einer Todesliste der Paramilitärs stand. Sofort ließ er den Jungen holen und über die nahe Grenze nach Venezuela schaffen. „Von heute auf morgen geschah dies. Das war der größte Schock meines Lebens.“ In Venezuela nahm Camilo eine neue Identität an, und er bekam auch einen neuen Namen. Jetzt sitzt er gleichsam zwischen allen Stühlen: Er gilt als Venezolaner, hat drei Namen, einen venezolanischen, einen Guerillanamen und den eigenen; es fehlen ihm Papiere, lediglich eine Geburtsurkunde trägt er bei sich.
Die 39jährige Guerillera Elizabeth hat sich im Laufe der Jahrzehnte, in der sie durch Urwälder und Savannen zogen, allerlei praktisches Wissen über Krankheiten und die Wundversorgung von Verletzten angeeignet. „Ich bin hier zur Krankenschwester geworden.“ Ihr sehnlichster Wunsch wäre es, Medizin studieren zu können. Auch Camilo weiß, was er in Zukunft anfangen will: „Ich bin Künstler, Maler und Musiker wie mein Vater. Ich will studieren. Aber zuvor muss ich die Welt kennenlernen. Ich werde durch Kolumbien reisen und alle Gegenden aufsuchen. Aber ich habe ja keinen Pass. Die Regierung muss uns, die geheimen Kinder der Guerilleros, endlich anerkennen.“
(Copacabana, 29.04.2017)