16 Feb Eindrücke von der Straße
Unter allen Maßnahmen und Aktivitäten von Patio13 ist die Erkundung der „Welt der Straße“ am wichtigsten. Die Straße, die hier gemeint ist, ist das Stadtzentrum, abstoßend, gefährlich; es stinkt. Urin, Kot und Marihuana verschlagen einem den Atem. Es ist ganz normal, dass, wer sich dort aufhalten muss, Angst und Ekel verspürt. Wer will schon mit Drogenabhängigen, Bettlern, Prostituierten zu tun haben? Anständige Leute gehen dort nicht hin, und wenn’s doch einmal sein muss, sehen sie zu, dass sie die verrufene Gegend rasch wieder verlassen. Väter und Mütter warnen ihre Kinder: Haltet euch von dort fern Das ist nichts für euch!
Ausgerechnet in diese unwirtlichen Gegenden zieht es die Studentinnen von Patio13. Bevorzugt suchen sie die Metrostation Prado Centro mitten in Medellín auf, den Babystrich nahe dem Bolivar-Park, die Gassen, wo sich die Transvestiten präsentieren, die Straßen mit den Stundenhotels, wo die Mädchen schlafen, arbeiten und ihre Babys vor der Polizei verstecken, weil sie befürchten, dass ihnen die Kinder abgenommen und in ein Waisenhaus gesteckt werden. Sind die Kleinen erst einmal im Spielalter, begleiten sie ihre Mütter auf die Straße und warten geduldig, bis die Kundschaft bedient ist und die Mütter von der Arbeit zurückkommen.
Die Patio13-Studentinnen sind erst 16, 17, 18 Jahre alt. Straßengänge sind Teil ihrer pädagogischen Ausbildung. Ins Curriculum der Escuela Normal Superior María Auxiliadora für Lehrerausbildung in Copacabana gehören – dank Patio13 – Straßenaktivitäten genauso wie das zweijährige E-Learning-Programm „Straßenpädagogik. Hinzu kommen straßenpädagogische Seminare, ein Gesundheits- und ein naturwissenschaftliches Lernprogramm.
Jede neue Jahrgangsgruppe im Ciclo complementario (der abschließenden zweijährigen Studienstufe, während der die Studentinnen sowohl an der Escuela Normal in Copacabana als auch an einer Universität in Medellín eingeschrieben sind) wird mit der Wirklichkeit der Straße vertraut gemacht. Zwar behaupten die Beteiligten, Medellín sei „ihre“ Stadt, aber das Zentrum kennen sie überhaupt nicht. Sie wissen, dass man dorthin eigentlich nicht geht; aber es reizt sie, die fremde Welt der Straße kennenzulernen.
Keine Maßnahme im Projekt ist mir persönlich so lieb und wichtig wie die Straßengänge und praktischen Aktivitäten der Studentinnen im Straßenmilieu. Deshalb versuche ich, vor allem ihren ersten Straßenkontakt, wann immer es möglich ist, zu begleiten. Gerade war es wieder so weit: „Plaza de encuentro Prado Centro!“, hieß die Parole, „Treffpunkt Pardo Centro, und zwar am 8. Februar 2023, um 14 Uhr!“
Sechzehn Personen haben sich diesmal dort eingefunden. Die Studentinnen fallen im Straßenbild auf in ihren weißen Blusen mit dem Logo der Schule, das sie schützt. Mit dabei sind: Sor Mary Luz, die neue Rektorin; Dr. Thomas Schliermann, der den medizinisch ernährungs- und gesundheitspädagogischen Teil des Projekts vertritt; Natalia Salamanca, Mitglied der Leitungsgruppe („Grupo base Patio13“) und für das straßenpädagogische Theorieseminar verantwortlich; Victor Marín, der zukünftig die Gruppe der Studentinnen in der Stadt begleiten und schützen wird; und schließlich ich selbst. Ich möchte den Studentinnen von der Geschichte des Projektes Patio13 erzählen, während wir diejenigen Orte aufsuchen, wo wir mit unseren pädagogischen Asphalt-Aktivitäten seit über zwanzig Jahren tätig sind.
Im Zentrum überspannt die Metro als Hochbahn viele hundert Meter. In ihrem Schutz haben sich unzählige „vendedores ambulantes / fliegende Händler“ niedergelassen und ihre Schätze auf Planen am Boden ausgebreitet. Dieses chaotische Gewühl und Gewoge aus Verkehr, Lärm, Geschrei, Menschen und Riesenmengen von abfallartigem Kram „Flohmarkt“ zu nennen, würde wohl das genannte Getier beleidigen. Früher war genug Platz für die Mädchen, die hier ihrem Gewerbe nachgingen, und auch für uns, die wir sie zu allerlei Aktivitäten, Lernsituationen und Spielen einluden.
Heute verlieren sich die Mädchen im Gedränge. Ihre Kunden wie auch wir müssen sie mühsam aufstöbern und zusammentrommeln. Normalerweise nehmen die Studentinnen dann zusammen mit den Mädchen auf dem Boden Platz, irgendwo am Rande des Trubels. Für kleine Projekte sind Ideen und Materialien vorbereitet.
Heute aber gibt es nichts dergleichen. Wir wollen – nach langer Unterbrechung wegen der Pandemie und aufgrund weiterer Schicksalsschläge in der Vergangenheit – die aktuelle Lage erkunden, Mädchen und Jungen, die wir seit langem kennen, treffen und an die früheren Beziehungen anknüpfen. Ein schmaler Gang führt durch den Krimskrams auf dem Boden: Nägel, Schrauben, Handys, Teile von Radios und Fernsehgeräten, Raubdrucke von Büchern, alte vergilbte Illustrierten, dazwischen Bilder fürs Schlafzimmer von Jesus und der Jungfrau Maria.
Fast sind wir über ein kleines Menschenbündel gestolpert. Es kauert auf dem Boden und hat das Shirt über Kopf und Körper gezogen, so dass man nicht sieht, was sich darunter verbirgt. Als ich das Bündel antippe und „Mercedes!“ rufe, schält sich ein Mädchen aus den Kleidern. Ich kenne sie seit vielen Jahren und treffe sie immer wieder am selben Ort. Klein, krank und leidend sieht sie aus. Sie zeigt ihr verletztes Bein. Von einem Bus ist sie erfasst worden. Der aggressive Verkehr ist die Todesursache von vielen, zumal sie fast den ganzen Tag über von Drogen benebelt sind und oft unverhofft über die Straße wanken. Zu essen und zu trinken bekomme sie von den Leuten hier, sagt Mercedes; nur mit dem Laufen klappe es nicht mehr.
Wenige Schritte entfernt treffen wir auf Julia. Als sie uns sieht, fängt sie zu tanzen an und singt „La papaya“, das Wiedererkennungslied, das die Studentinnen gewöhnlich anstimmen, um die Mädchen anzulocken. Julia, schmächtig und so groß wie eine Zwölfjährige, hat bereits zwei Kinder geboren, eines sieben, das andere anderthalb Jahre alt. Beide leben bei einer ihrer Schwestern. Ich erinnere mich an die Tage nach der Geburt des ersten Kindes, als Julia am Boden saß, überfordert und verwirrt, und nicht zu begreifen schien, was mit ihr geschah.
Dann stoßen wir auf Muelas („Backenzahn“). Er dürfte heute gegen dreißig Jahre alt sein, sieht aber wie ein Zwanzigjähriger aus. Wie alle, konsumiert auch er fast ununterbrochen Drogen. Ich habe ihn als kleinen Jungen kennengelernt. „Wie geht es Jonas?“ lautet stets, wenn ich ihn treffe, die erste Frage. Mein Sohn Jonas hat ihn vor Jahren interviewt. Er schlägt sich heutzutage als Zuhälter durch und „betreut“ zwei Mädchen.
Wir besuchen die Stelle, wo „el doctor Tomas“ (Dr. Thomas Schliermann) zuletzt sein praktisches Gesundheitsprojekt mit Zahncreme und Bürsten, Bananen und Kondomen durchführte und wo er es auch weiterhin anbieten wird. Auf der Plaza Botero, wenige Minuten entfernt, drängen sich die Prostituierten aus Venezuela, die der kolumbianischen Konkurrenz durch Dumpingpreise die Kundschaft abjagen – „Cinco mil pesos!“ (5000 Pesos, ein Euro). Die Polizei hat längst die Kontrolle über den Platz zwischen dem Museum von Antioquia und der Kirche Vera Cruz verloren. Die ganze Gegend soll nun gesperrt, die Zugänge kontrolliert werden.
Auf dem Park an der Kathedrale, vielleicht der größten Südamerikas, werden zum allergrößten Vergnügen der Studentinnen die obligatorischen Fotos der Gruppe vor dem Standbild des Nationalhelden Simon Bolivar gemacht.
Auf dem Rückweg zur Metrostation treffen wir dort, wo normalerweise die herausgeputzten Transvestiten stehen, eine Frau. Ich sage ihr, was uns, die Studentinnen und mich, in diese Gegend führt und bitte sie, uns über ihren Alltag zu erzählen. Sie ist zu Tränen gerührt vor Dankbarkeit und berichtet, wie abschätzig, wie ein Stück Ware sie von den Freiern behandelt wird. Ihr Schicksal, die Traurigkeit und Ausweglosigkeit ihres Lebens berühren uns, und in Gedanken versunken machen wir uns auf den Rückweg.
(Hartwig Weber, 4. Februar 2023)