Patio13 – Was passiert gerade?
„Patio 13 – Schule für Straßenkinder“ ist eine internationale Bildungsinitiative der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der kolumbianischen Lehrerbildung („Escuelas Normales Superiores“), an der namhafte Universitäten in Deutschland (Heidelberg und Freiburg) und in Kolumbien (Universidad de Antioquia, Medellín, und Universidad Externado de Colombia, Bogotá) beteiligt sind.
Patio13, Patio 13, Strassenschule, Straßenkinder, Straßenkids, Sozialpäd, Sozial, Einrichtung, Konzept, Hilfen, systemisch , Jugendarbeit, Menschen, in, besonderen, Problemlagen, Drogen, streetworker, Jugendhilfe, Kolumbien,
15850
post-template-default,single,single-post,postid-15850,single-format-standard,bridge-core-2.1.3,qode-quick-links-1.0,ajax_fade,page_not_loaded,, vertical_menu_transparency vertical_menu_transparency_on,qode-title-hidden,qode-theme-ver-20.0,qode-theme-bridge,disabled_footer_top,qode_header_in_grid,wpb-js-composer js-comp-ver-6.2.0,vc_responsive,elementor-default

Patio13 – Was passiert gerade?

Patio13 – Schule für Straßenkinder

 San Pedro

 

Neues von Patio13

Dies ist ein Bericht über den aktuellen Stand der Entwicklungen, Maßnahmen und Vorhaben im Projekt „Patio13 – Schule für Straßenkinder“, verfasst während meines Aufenthaltes in Copacabana / Medellín vom 20. Januar bis 20. Februar 2016.

„Postkonflikt“
Ganz Kolumbien hält den Atem an. Am 23. März soll endlich ein Friedensvertrag zwischen der Regierung und der marxistischen Guerillagruppe FARC geschlossen werden. Nach über sechzig Jahren, in denen das Land so gut wie nie Ruhe und Frieden erlebt hat, sehen Optimisten eine neue Zeit heraufziehen. Bereits im Dezember 2015 hatte das Repräsentantenhaus eine Volksabstimmung für ein Friedensabkommen mit den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ (FARC) genehmigt. Die meisten Kolumbianer sind dafür. Am 15. Dezember konnten dann die kolumbianische Regierung und die Terrorgruppe ein erstes Abkommen schließen, tatsächlich eine „historische“ Übereinkunft. Eine „Comisión de la Verdad“ (Wahrheitskommission) wurde eingerichtet.

Das Abkommen sieht außergerichtliche Regelungen und eine umfassende Wiedergutmachung vor mit Schadensersatz, Rückerstattungen und Entschädigungen der Opfer. Auch soll eine „Jurisdicción Especial“ für die Friedensregelungen geschaffen werden. Vereinbart ist, dass Mitglieder der FARC und des Militärs, die sich schuldig gemacht haben, mit einer Strafe von fünf bis acht Jahren davon kommen, wenn sie ihre (oft jegliches vorstellbare Maß sprengenden) Verbrechen eingestehen und sich freiwillig stellen. Allerdings kommen sie nicht ins Gefängnis. So wird befürchtet (zum Beispiel von Human Rights Watch wie auch von den betroffenen Opferfamilien), dass das Recht auf Wiedergutmachung von Tausenden untergraben werde. Die Zahl der Toten während der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Terrorgruppen FARC und ELN wird auf 220.000 geschätzt. Nach Syrien ist Kolumbien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen.

Offen ist bis heute die Frage der vollständigen Demobilisierung der Terrorgruppe. (Etwa 30 0000 Kämpfer der Guerilla und der paramilitärischen Gruppen sollen inzwischen ihre Waffen abgegeben haben. Nicht wenige von ihnen nehmen die Wiedereingliederungshilfen des Staates in Anspruch, um sich anschließend den neu entstehenden kriminellen Banden anzuschließen. In manchen Städten kann man die fortschreitende Kriminalisierung ganzer Viertel beobachten, zum Beispiel in Bello, das zwischen Medellín und Copacabana liegt.) Die Regierung hofft auf eine endgültige Einigung mit der FARC vor dem 23. März 2016.

Nach den ersehnten politischen Entscheidungen folgen die Schwierigkeiten der sozialen Integration von Menschen, die oft lebenslang, nicht selten seit ihrer Kindheit, das unstete Dasein von Illegalen an ständig wechselnden Orten in nahezu unzugänglichen Urwaldgegenden und im Untergrund zugebracht haben – fern von jeder Zivilisation und nicht selten ohne Schul- und Berufsausbildung.

Guerillamädchen
Guerillamädchen

Integration von „Kindersoldaten“ durch Bildung
Ohne tragfähige Erziehungs- und Bildungsangebote werden diese meist jungen Menschen weder in der Gesellschaft noch im Berufsleben zurechtkommen. Im März 2016 werden allein in Medellín 2000 „Resozialiserungsfälle“ ankommen, darunter Jungen, die gelernt haben, ihre Feinde mit Kettensägen zu zerstückeln, und Mädchen, die im Alter von zwölf Jahren entführt und als Prostituierte der Guerilla aufgewachsen sind – traumatisierte Analphabeten ohne realistische Vorstellung davon, was ihnen die Zukunft bringt.

(Ein Vergleich mit den aktuellen Problemen der Integration von Flüchtlingskindern in Deutschland zeigt Gemeinsamkeiten und gravierende Unterschiede: Während es dort – in Europa – viele von Krieg und Flucht traumatisierte Kleinkinder und Jugendliche sind, die, ohne jegliche Sprachkenntnisse, sich in einer völlig neuen Kultur zurecht finden müssen, handelt es sich hier – in Kolumbien – meist um junge Menschen, die entwurzelt, der Zivilisation entfremdet und traumatisiert auch durch eigene Verbrechen, keinerlei Vorstellung haben, was jetzt aus ihnen werden soll. Die Gesellschaft produziert indes hehre Ziele von Verzeihung und Inklusion, aber man hat den Verdacht, dass niemand weiß, wie das gehen soll.)

Qualifizierung für eine schwere Aufgabe. Praktika, Theorieseminare und das E-Learning-Programm zur Mitarbeiterschuldung
Im Projekt Patio13 bereiten wir uns derzeit darauf vor, diejenigen Institutionen mit unserer Erfahrung in Sachen Bildung für junge Menschen in Risikosituationen zu unterstützen, die die entwurzelten Jugendlichen aus Guerilla, Paramilitärs und kriminellen jugendbanden aufnehmen werden. Zur Erinnerung: Patio13 ist ein Vorhaben, das von der Gesellschaft ausgeschlossenen Kindern und Jugendlichen Bildungsangebote macht, um ihnen die Chance einer besseren Zukunft zu eröffnen. Angesiedelt in der Lehrerbildung, gilt es heute, eine neue Generation von Pädagogen heranzubilden, die dem Land nach dem Ende der seit den fünfziger Jahren des 20.Jahrhunderts andauernden „Violencia“ („Gewalt“) und in der Phase des „Nach-Konflikts“ („posconflicto“) zur Verfügung stehen werden, um den anstehenden Transformationsprozess zu begleiten, zu befruchten, überhaupt zu ermöglichen.

An der Escuela Normal Superior María Auxiliadora, wo Erzieher und Lehrer ausgebildet werden, entwickeln wir eine „Escuela de formación en pedagogía para ninos y jóvenes en situaciones de riesco“. Dabei geht es um die Qualifizierung von jungen Pädagogen für die Bildungsarbeit nicht nur mit Straßenkindern, Flüchtlingskindern, Mädchen in der Prostitution und „Teenagermüttern“, sondern jetzt auch verstärkt mit ehemaligen „Kindersoldaten“.

Das Qualifizierungsangebot ist Teil der Ausbildung an der Escuela Normal und gliedert sich in drei Inhaltsbereiche auf, in Praktika, Theorieseminare und das E-Learning-Programm „Straßenpädagogik“. Die Teilnehmer erwerben die Kompetenz, kleinere, pädagogische relevante Forschungsprojekte zu planen und durchzuführen. Im Kontakt mit betroffenen Kindern und Jugendlichen entwickeln und realisieren sie Orientierungs- und Bildungsangebote. Und als Tutoren („madrinas“, „padrinos“) führen sie Teilnehmer des Online-Programms in die Praxis und Theorie der Straßenpädagogik ein.

Grado_12
E-Learning-Kurs „Straßenpädagogik“

E-Learning-Kurse
Im Februar 2016 wurde während eines einwöchigen Intensivseminars eine neue Gruppe von 20 Teilnehmern (grado 12) in die Handhabung des E-Learning-Programms eingeführt. (Zuvor hatten bereits vier interne und externe Gruppen das Online-Programm absolviert.) Das gesamte Programm dauert 68 Wochen und vermittelt folgende Kompetenzen: .

  • Die Teilnehmer erwerben ein umfangreiches empirisches, theoretisches und historisches Wissen über Schicksale und Alltag von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenslagen-von Straßenkindern, Kindermüttern, Kindersoldaten, Kriegskindern, Flüchtlingskindern. „
  • Sie reflektieren das Phänomen gesellschaftlicher Exklusion Minderjähriger vor dem Hintergrund der Geschichte der Kindheit sowie einschlägiger Theorien und Konzeptionen zu Armut, Globalisierung und weltweiter (Un-) Gerechtigkeit. „„
  • Sie werden befähigt, die jeweiligen politischen, sozialen und historisch bedingten Lebensumstände Betroffener in ihren jeweiligen Ausprägungen mit wissenschaftlichen Methoden zu analysieren.
  • Sie vertiefen ihre Selbstkompetenz durch Reflektion ihrer eigenen emotionalen und kognitiven Wahrnehmung. „„
  • Sie lernen einschlägige Forschungsmethoden kennen und entwickeln auf deren Grundlage lebensdienliche Orientierungs- und Bildungsangebote, die die Selbstkompetenz gesellschaftlich benachteiligter junger Menschen fördern.

Inzwischen bearbeiten die Teilnehmer den ersten von sechs Kursen des Programms, in dem sie sich über die Erfahrungen bei ersten Straßengängen austauschen. Jeder Teilnehmer erledigt zwei Aufgaben pro Woche. Die Texte werden von den Tutoren umgehend kommentiert und bewertet. Aufgabe der „madrinas“ und „padrinos“ ist es auch, die Diskussion in den Foren anzuregen und reflektierende Erfahrungsberichte ins Studientagebuch einzutragen.

Gleichzeitig setzt eine zweite Gruppe (grado 13) von ebenfalls 20 Teilnehmern ihre Arbeit im dritten Kurs des Programms fort. So werden die Studenten des „ciclo complementario“, der universitären Phase der Lehrerausbildung, sowohl in der Straßenpädagogik wie in der Handhabung der E-Learning-Methode geschult.

Als Betreuer der beiden derzeit laufenden Gruppen stehen zehn Tutoren zur Verfügung. Sie haben seit Jahren im Projekt Patio13 mitgearbeitet, haben Erfahrungen sowohl auf der Straße wie auch als Teilnehmer am Online-Programm gewonnen und sind geeignet, ihre eigene Qualifizierung weiter zu geben. Jede Tutorin betreut vier Teilnehmerinnen, das heißt, dass sie pro Woche acht Texte zu kommentieren und zu bewerten hat.

 

Gruppe_Prado
Bildungsangebote auf der Straße

Praktika
Die Tutoren begleiten die Teilnehmer der E-Learning-Programme auch während der Praktika. Die Studentinnen, die im jetzt mit dem E-Learning-Programm begonnen haben (grado 12), besuchen einmal in der Woche (donnerstags) die problematischen Viertel (Slums, „invasiones“ mit Drogenhandel, Prostitution, Gewalt in den Familien), die in unmittelbarer Nähe von Copacabana die steilen Hänge hinauf wachsen: Yarumito, Cabuyal, Villas de Copacabana und Cristo Rey. Dort sammeln sie die Kinder ein, mit denen sie spielen und arbeiten. So versuchen wir, den Zustrom von immer neuen „Straßenkindern“ aus dem Slumgürtel der Stadt aufzuhalten, jedenfalls ihm etwas entgegen zu setzen.

Die Teilnehmerinnen des seit 2015 laufenden Kurses (grado 13) realisieren ihre Praktika im Zentrum von Medellín, wo sie mit Straßenkindern und –jugendlichen, jungen Prostituierten und den in den „Hotels“ eingesperrten Kindern der „Teenagermütter“ arbeiten. Sie sind dort dienstags, mittwochs und freitags, jeweils an den Nachmittagen, unterwegs. Je eine Tutorin begleitet eine Kleingruppe von vier oder fünf Studentinnen.

Theorieseminare
Über ihre Erfahrungen auf der Straße und in den Randsiedlungen („barrios“) tauschen sich die Studentinnen in den Foren des E-Learning-Programms aus. Darüber hinaus vertiefen sie ihre Kenntnisse in Theorieseminaren. Dafür sind die Freitage, jeweils von 11 bis 13 Uhr, reserviert. Es geht dabei um die Planung und Evaluierung der Praktika und um die Diskussion über auftretende Schwierigkeiten und Erfolge.

 

Taubstummes_Mädchen
Taubstummes Straßenmädchen

Pädagogische Forschungsprojekte
Im Februar 2016 wurde die Gruppe der Betreuerinnen in zwei für die Bildungsarbeit relevante Forschungsprojekte eingeführt: In Zusammenarbeit mit Gabriel Murillo, Professor an der Universität von Antioquia und seit der Gründung im Jahr 2000 Mitarbeiter im Projekt Patio13, wird die spanische Version des E-Learning-Programms wissenschaftlich evaluiert und Schritt um Schritt verbessert. Das Ergebnis wird in etwa anderthalb Jahren vorliegen. (Gleichzeitig wird die deutsche Version des Programms in einer Pilotphase erprobt und evaluiert, die im kommenden April abgeschlossen wird.)

In den zurückliegenden Tagen und Wochen wurden die Tutorinnen auch in ein neues Forschungsprojekt eingeführt, in dem es um die „moralische“ Motivation von Handlungen, Kontaktaufnahmen und Beziehungen im Alltag von jugendlichen Straßenbewohnern geht. Das Thema des Vorhabens lautet „Ética de la calle“. Welche Gedanken, Gefühle oder Wünsche spielen eine Rolle, wenn sich Straßenjugendliche so oder so entscheiden? Ziel ist es, festzustellen, ob moralische Vorstellungen und Motive bei den Jugendlichen, die wir im Zentrum Medellíns treffen, eine Rolle spielen und wie sie („moralisch“) geformt sind. Dabei untersuchen wir alle möglichen Kontaktformen, Beziehungen, Begegnungen, Interaktionen, Abgrenzungen usw. – was immer zu beobachten und zu erfragen ist. Das Projekt soll ein Jahr lang dauern. Gestartet im Februar, finden im Juni und September 2016 zwei Zwischenevaluationen statt, und im Januar / Februar 2017 sollen die Ergebnisse des Vorhabens in einer öffentlichen Ausstellung präsentiert werden.

Darüber hinaus bereiten wir – wie bereits gesagt – ab sofort die Orientierungs- und Bildungsarbeit mit ehemaligen jugendlichen Guerilleros und Paramilitärs vor. Im Laufe des Jahres soll die Kontaktaufnahme mit ihnen in einschlägigen Institutionen stattfinden, zum Beispiel in der „Albergue“ von Ciudad Don Bosco in Medellín, dem Zentrum der Salesianer, wo ehemalige Kindersoldaten eine vorübergehende Bleibe finden. Mit den erarbeiteten Bildungsangeboten hoffen wir, ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft zu erleichtern und ihre Zukunftschancen zu verbessern.

 

Copacabana, im Februar 2016                Hartwig Weber und Sor Sara Sierra Jaramillo